Können Sie überhaupt reinen Gewissen in den Spiegel schauen?

Veröffentlicht am 9. Juni 2021 um 15:00

»Können Sie überhaupt reinen Gewissens in den
Spiegel schauen?«, schreibt ein Betroffener Marx am 3. Mai

Welche Fehler der Kardinal im Umgang mit sexualisierter Gewalt gemacht hat VON RAOUL LÖBBERT
Die Nachricht kam völlig überraschend am späten Freitagvormittag. Kardinal Reinhard Marx teilte mit: Er
habe den Papst gebeten, abtreten zu dürfen als Erzbischof von München und Freising. Einen Brief an Franziskus mit Datum
vom 21. Mai veröffentlichte er gleich mit. Er schreibt darin, »Mitverantwortung« und »Mitschuld« zu übernehmen für die »Katastrophe des sexuellen Missbrauchs«.
Das gab es noch nie: ein Erzbischof, der ein
Zeichen setzt, indem er von der Macht lässt, ohne
gezwungen zu sein. Der Druck auf den Hambur-
ger Erzbischof Stefan Heße, der im März dem
Papst seinen Rücktritt angeboten hat, war erheb-
lich stärker.
Und dann ausgerechnet Marx: Anders als Rai-
ner Maria Woelki, der sich in Köln nach wie vor
resistent zeigt gegen Rücktrittsforderungen aller
Art, galt Marx jahrelang als liberaler Hoffnungs-
träger. Ebendieser Hoffnungsträger opfert sich
jetzt und setzt damit jeden Bischof unter Druck,
der bleibt. Die Folge: Respekt, Bestürzung, Ratlo-
sigkeit bei Politikern, Mitbrüdern und Gläubigen.
»Da geht der Falsche«, sagte Thomas Sternberg,
Präsident des Zentralkomitees der deutschen Ka-
tholiken. Seine Äußerung entsprach dem Emp-
finden vieler.
Doch so eindeutig ist die Sache bei genauerer
Betrachtung nicht. In Marx’ Brief an Franziskus
ist zwar viel von »persönlichen Konsequenzen« die
Rede, doch wofür genau, bleibt unklar. Eigene
»Versäumnisse« werden zwar angedeutet, aber nicht ausgeführt. Das Bekenntnis zur Mitverant-
wortung wirkt dann doch wieder wie bischöfliche
Routine in Zeiten der Missbrauchskrise. Aber
durch das Ich des Abgangs bekommt das Bekennt-
nis politisches und moralisches Gewicht. Fast un-
ter den Tisch fällt jedoch, dass sich Marx zuletzt
Vertuschungsvorwürfen ausgesetzt sah. Fast alle
betrafen seine Zeit als Bischof von Trier, wo er von
2002 bis 2008 amtierte.
Im März berichtete der Deutschlandfunk etwa
über einen Fall, in dem eine Frau von einem Pries-
ter in Marx’ Verantwortungsbereich missbraucht
und zur Abtreibung gezwungen worden sein soll.
Kirchenrechtlich wurde der Priester nie belangt.
Marx selbst beriet ihn, wie man in Rom damit
durchkommt. Später machte der Priester sogar im
Bistum Trier Karriere.
Ende April legte Christ&Welt eine ausführliche
Recherche über einen anderen Missbrauchsver-
dachtsfall vor (Nr. 18/21). Mit dem hatten sowohl
Marx als auch der heutige Trierer Bischof Acker-
mann sowie Georg Bätzing, Bischof von Limburg
und ehemaliger Generalvikar in Trier, zu tun:
Marx zog 2006 den Pfarrer M. nicht aus dem Ver-
kehr, obwohl dieser gegenüber der Kriminalpolizei
Missbrauchshandlungen an einem Jugendlichen
teilweise gestanden hatte. Strafrechtlich waren die
Taten nur um wenige Wochen verjährt, kirchen-
rechtlich hätten sie 2006 noch geahndet werden
können. Marx entschied sich dagegen, ließ nicht
einmal die Akten von der Staatsanwaltschaft kom-
men und riskierte, dass ein mutmaßlicher Täter in
der Macht- und Vertrauensposition des Priesters
blieb. Achtmal wurde der Priester in den folgen-
den Jahren angezeigt. Zu einer Verurteilung kam es jedoch nicht. Die meisten Taten waren verjährt.
Im Jahr 2016 erließ das Bistum Trier für den Pries-
ter ein Zelebrations- und Kontaktverbot zu Kin-
dern und Jugendlichen.
Auf C&W-Nachfrage zum Pfarrer M. räumte
Marx im April ein, er bedauere sein Verhalten sehr.
Ob er 2006 als Bischof von Trier Taten hätte ver-
hindern können? »Die Frage geht auch mir nach«,
antwortete der Kardinal. »Für mich ist klar: Auch
Unwissenheit bei falschem Handeln beziehungs-
weise Unterlassen verhindert nicht, dass Verant-
wortung und auch Schuld vorliegen und über-
nommen werden müssen. Eine genauere Untersu-
chung des gesamten Falls sollte das meines Erach-
tens klären.«
Noch am Tag der Veröffentlichung gestanden
die Bischöfe von Limburg, München und Trier
in einer gemeinsamen Erklärung ihrer Pressestellen
Fehler ein und kündigten an, den Fall aufzuarbei-
ten. Dieser Untersuchung kommt Marx nun zuvor.
Doch das ist noch nicht alles. Ebenfalls im
April wurde bekannt, dass Bundespräsident Stein-
meier Marx das Bundesverdienstkreuz verleihen
wollte. Der Termin im Schloss Bellevue war bereits
angesetzt. Opfervertreter kritisierten dies vehe-
ment mit Verweis auf Marx’ Verantwortung in
Trier. Am Ende verzichtete der auf die Ehrung,
bevor es zum Eklat kam.
Oder nehmen wir die Aufarbeitung im Erzbis-
tum München. Zwar gab Reinhard Marx 2010
eine interne Untersuchung der Missbrauchsfälle in
seinem Verantwortungsbereich bei der Anwalts-
kanzlei Westphal, Spilker, Wastl in Auftrag. Doch
von einer Zusammenfassung abgesehen blieb die
Untersuchung im Aktenschrank unter Verschluss.Eine zweites Gutachten – ebenfalls in der Verant-
wortung der Anwälte Westpfahl, Spilker, Wastl –
ist zwar momentan in Arbeit, doch wird es wohl
kaum im Sommer erscheinen, so wie ursprünglich
geplant. Hinzu kommt: Das einzige weibliche
Mitglied des Münchner Betroffenenbeirats legte
jüngst Amt und Arbeit nieder unter Protest: Weib-
liche Missbrauchsopfer würden nicht ernst ge-
nommen, lautete der Vorwurf. Zudem befänden
sich andere Mitglieder des Beirats in einem Ab-
hängigkeitsverhältnis zum Bistum. Das konterka-
riere die unabhängige Aufarbeitung.
Die neue Untersuchung der Anwälte soll noch
in diesem Jahr erscheinen, wie es aus dem Erzbis-
tum München mittlerweile heißt. Bewertet wird
dabei nicht nur das Handeln der ehemaligen
Münchner Erzbischöfe Joseph Ratzinger und
Friedrich Wetter, sondern auch das von Reinhard
Marx, dem Auftraggeber der Untersuchung. Das
Amt in München hat er bereits seit 2008 inne, der
Untersuchungszeitraum der neuen Studie erstreckt
sich von 1945 bis 2019.
Mit seinem Rücktritt übernimmt Marx nun
vorab die Verantwortung für alles, was da kommen
mag – und wird dafür gelobt wie für einen hero-
ischen Akt. In seinen eigenen Worten: »Um Ver-
antwortung zu übernehmen, reicht es (...) nicht
aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzel-
nen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und
Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern
deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für
die Institution Kirche als Ganzes stehen.«
Doch wie steht es um sein Gewissen, um sein
Bekenntnis zur Schuld und nicht nur zur Mit-
schuld? Im Brief an Franziskus findet sich dazu wenig. Immerhin: Im Jahr 2020 kündigte Marx
an, eine gemeinnützige Stiftung für Missbrauchs-
betroffene gründen zu wollen mit dem Titel »Spes
et Salus«, Heilung und Versöhnung. Dafür stellte
Marx 500.000 Euro aus seinem Privatvermögen
zur Verfügung. Reue kennt viele Ausdrucksfor-
men. War dies eine?
Es ist schwer, die eigene Schuld zu reflektieren,
sie sich und anderen einzugestehen. Kurz bevor
Marx Franziskus um Entpflichtung bat, erreichte
den Kardinal ein Brief. Verfasser des Schreibens
vom 3. Mai ist ebenjener Mann, der Ende der
Neunziger als Fünfzehnjähriger von dem Pfarrer
missbraucht worden sein soll, gegen den Marx
2006 nicht vorging. Ebenjener Mann hatte sich
damals an die Polizei gewandt. Fünfzehn Jahre
später schreibt er Marx, wie es ihm geht und wie
ihn das Geschehene begleitet. Es ist ein harter
Brief, voller Schmerz und Wut. Er mündet in einer
Schuldfrage: »Können Sie überhaupt reinen Ge-
wissens in den Spiegel schauen? Oder besteht der
Spiegel aus massivem Panzerglas, damit er nicht
zerspringt?«
Der Betroffene, der heute im bayerischen Bad
Tölz lebt, fährt fort: »Leere Worte kennt man von
Ihnen nun zu Genüge. Es sollten von Ihnen hier
auf Erden mal lieber Taten folgen.«
Eine Referentin des erzbischöflichen Sekreta-
riats in München bestätigte am 19. Mai dem Be-
troffenen brieflich, dass sein Schreiben vom 3. Mai
2021 eingegangen ist: »Ihr Schreiben hat Kardinal
Marx persönlich erhalten.«
Persönlich geantwortet hat er bis Redaktions-
schluss nicht. Stattdessen ließ Marx Taten für sich
sprechen.

 

 


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