Zeugen über Missbrauch in der katholischen Kirche - Der Teufel hinter der Kirchentür-

Veröffentlicht am 10. Dezember 2021 um 12:00

Ein Team des SPIEGEL reiste monatelang durch das Bistum Trier, sprach mit Dutzenden Betroffenen und Zeugen. Die Recherche zeigt das wahre Ausmaß des Missbrauchsskandals – und wie Kirchenobere mutmaßliche Täter in manchen Fällen geschützt haben.

Von Britta StuffAnnette GroßbongardtMax PolonyiKatja Bernardy und Robin Hinsch (Fotos)

10.12.2021, 12.17 Uhr  aus DER SPIEGEL 50/2021

Quelle:

https://www.spiegel.de/panorama/missbrauch-in-der-katholischen-kirche-der-teufel-hinter-der-kirchentuer-recherche-im-bistum-trier-a-d57a2f3f-4c39-4302-8105-cf8798681489

An der Tür hängt ein Schild: »Fotografierverbot und Verschwiegenheit«. Timo Ranzenberger lebt hier, hinter Kaiserslautern, hinter München, weit entfernt vom Bistum Trier, in einem Ort in Oberbayern.Das kleine Haus mit dunklem Holzdach ist eine Einrichtung für Suchtkranke, mit Alkoholkontrollen, Urintests und Arbeitstherapie. Timo Ranzenberger ist 38 Jahre alt, seit acht Jahren freiwillig hier, seine sanfte Stimme würde niemals darauf schließen lassen, dass er 40 bis 50 Filterlose am Tag raucht. Er sitzt an diesem Tag im Garten hinter dem Haus und sagt, er führe ein Glasscherbenleben. Vor ihm liegt ein Aktenordner, darin seine Geschichte, die ihn mit dem Bistum Trier verknüpft. Sie handelt davon, wie aus einem möglichen Verbrechen mutmaßlich mehrere werden konnten: durch Wegschauen.
Ranzenbergers Mutter war Alkoholikerin, sein Vater heroinabhängig.
Der Sozialdienst katholischer Frauen erhielt nach dem Tod seiner Großmutter die gesetzliche Vormundschaft, er kam zu einer streng katholischen Pflegefamilie in einer Gemeinde des Bistums Trier, später in eine Wohngemeinschaft. Mit 11 wurde er Messdiener. Ende der Neunzigerjahre, Ranzenberger war 15 Jahre alt, begegnete er dem Pfarrer der Gemeinde auf der Straße. Der habe ihn gefragt, ob er nicht Lust habe, ein Wochenende bei ihm im Pfarrhaus zu verbringen. Es sei ihm wie das Paradies erschienen, sagt Ranzenberger: Sechs oder sieben Jungs hätten draußen am Gartentisch gesessen und so viel Bier getrunken, wie sie konnten, besorgt hatte es der Pfarrer selbst.

Irgendwann, sagt Ranzenberger, sei er so betrunken gewesen, dass er nicht mehr allein laufen konnte. Der
Pfarrer habe ihn ins Gästezimmer des Pfarrhauses gebracht. Dann habe er sich neben ihn gelegt und ihn gestreichelt. Es habe später andere Vorfälle
gegeben, einmal habe er ihm auch an den Penis gefasst.
Irgendwann stürzte Ranzenberger ab. Hauptschulabschluss, Gärtnerlehre, Vollrausch.
2005 begann er einen Entzug. Er bekam das Medikament Antabus, wer nach der Einnahme Alkohol
trinkt, muss sich innerhalb von Minuten übergeben. An einem Sonntagmorgen, endlich nüchtern, schaltete
er den Fernseher ein. Das ZDF übertrug einen Gottesdienst. Als er die Musik hörte, sei irgendwas in ihm passiert, sagt Ranzenberger. Er habe an damals denken müssen. Etwa ein Jahr später rang er sich durch, er rief bei der Pressestelle des Landeskriminalamts des Saarlands an und meldete, was damals geschehen war.
Ein Kommissar rief ihn an, und Ranzenberger machte eine schriftliche Aussage. Der Pfarrer wurde mündlich
vernommen und sagte im September 2006 gegenüber dem Kommissar aus:
»Es ist richtig, dass Timo bei mir im Pfarrhaus an Wochenenden übernachtet hat.«
»Ich habe noch das Bild vor Augen, dass Timo bei mir auf dem Schoß sitzt und ich ihn unter dem T-Shirt
streichele.«
»Ich wusste aber damals schon, dass es zumindest eine moralische Verfehlung war.«
»Er tat mir leid, und deswegen sagte ich mir, sei du ihm wenigstens gut.«
Die Aussagen des Pfarrers kamen einem Teilgeständnis gleich, die Staatsanwaltschaft sah einen hinreichenden Tatverdacht. Doch für die infrage kommenden Straftaten gab es damals eine Verjährungsfrist von fünf Jahren. Der Vorwurf an den Pfarrer war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt von Ranzenbergers Anzeige bereits verjährt, die Ermittlungen wurden eingestellt.
Die Staatsanwaltschaft informierte das Bistum Trier darüber, aber auch über den Tatvorwurf. Das Bistum befragte den Priester selbst. Dort soll er die Tat geleugnet haben.
Nach SPIEGEL-Informationen hat sich dann etwas ereignet, über das bislang noch nicht berichtet wurde.
Was sich zugetragen hat, muss vorsichtig formuliert werden, auch weil das Bistum Trier Fragen dazu nicht
beantwortet. Einige Zeit nach der Vernehmung, im Herbst 2006, fand ein Jugendfußballturnier in der Gegend statt. An dem Turnier soll eine Mannschaft aus der Gemeinde des Pfarrers teilgenommen haben, er soll sie betreut haben. Auch der Kommissar, der den Pfarrer vernommen hatte, soll dort gewesen sein.
Er soll den Pfarrer zusammen mit den Jugendlichen gesehen haben. Angeblich ließ es ihm keine Ruhe.
Er soll beim Bistum Trier angerufen und den Generalvikar Georg Holkenbrink, den Stellvertreter des
Bischofs, erreicht haben. Er wisse nicht, ob das Bistum informiert worden sei, soll der Kommissar gesagt haben, das Verfahren sei ja eingestellt worden, er müsse allerdings etwas loswerden. Er soll dem Generalvikar von dem Fußballturnier und dem Teilgeständnis berichtet haben und zu Holkenbrink in etwa Folgendes gesagt haben: »Es kann nicht sein, dass dieser Mann Jugendmannschaften betreuen darf.«
Es habe nicht lange gedauert, und der Kommissar soll von seinem Vorgesetzten angesprochen worden sein:
Das Bistum soll den Anruf gemeldet und sich beschwert haben.
Am 6. Dezember 2006, nach dem mutmaßlichen Anruf, fand eine Sitzung der Personalkommission des
Bistums statt. Anwesend: Generalvikar Holkenbrink, der damalige Bischof Reinhard Marx und der Personalchef. Dort wurde über die Zukunft des Pfarrers entschieden, der Ranzenberger missbraucht haben soll. Es wurde beschlossen, dass keine kirchenrechtlichen Voruntersuchungen gegen den Pfarrer eingeleitet werden, die beispielsweise zu einer Kontaktbeschränkung zu Jugendlichen hätten führen können. Der Pfarrer blieb auf seiner Stelle. Als wäre nichts gewesen. In den folgenden Jahren wurde
dieser Pfarrer noch mindestens sechsmal angezeigt, bis auf eines wurden alle Verfahren eingestellt. Ein ehemaliger Messdiener sagt, im Jahr 2007, ein Jahr nach dem Anruf des Kommissars beim Bistum, habe der Pfarrer ihn eingeladen, mit ihm übers Wochenende wegzufahren. Die Reise sei eine Belohnung für seine Dienste als Messdiener gewesen. Im Schwarzwald sei der Pfarrer dann in sein Zimmer gekommen und habe ihm in die Schlafanzughose gegriffen. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. 2015 wurde der Pfarrer beurlaubt, offiziell hieß es, weil er sich nicht an Absprachen gehalten habe. Kurz danach ging er in den Ruhestand. Erst im Mai 2016 begann ein kirchenrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen
ihn, unter anderem wegen des Falls Ranzenberger. Fast zehn Jahre waren seit dem mutmaßlichen Anruf des Kommissars vergangen.
Der SPIEGEL hat die Verantwortlichen mit den Vorwürfen konfrontiert.
Weder das Bistum Trier noch Marx als damals zuständiger Bischof wollen sich aktuell äußern. Sie dementieren nichts, beantworten nichts, sie verweisen auf das laufende Verfahren und schicken eine Stellungnahme vom April 2021, in der steht, dass »im Verlauf der Bearbeitung dieses Falles Fehler passiert«
seien, und räumen ein, dass 2006 versäumt worden sei, »Aufklärung zu betreiben«. Die damals und heute Verantwortlichen hätten dies mehrfach öffentlich eingeräumt und ausdrücklich bedauert. Man arbeite eng mit der zu ständigen Staatsanwaltschaft zusammen und habe alle Akten übermittelt.
Zu den neuen Erkenntnissen, zum Anruf des Kommissars, zu dem Vorwurf, dass sie genau gewusst haben könnten, dass der Pfarrer eine Gefahr darstelle,
sagen sie nichts. Der Pfarrer lässt über seinen Anwalt mitteilen, er wolle aufgrund des laufenden Verfahrens keine Stellungnahme abgeben.
Timo Ranzenberger hat Bischof Marx im Frühjahr 2021 einen Brief geschrieben, er hat ihn auch auf Facebook veröffentlicht: »Das, was Sie getan haben mit Ihren Entscheidungen, ist alles andere als christlich. Genau solche Menschen wie Sie lassen mich an das Böse glauben.«
Er erhielt eine Eingangsbestätigung des Erzbistums München, datiert zwei Tage bevor Marx dem Papst
seinen Rücktritt anbot. Eine Antwort von Marx erhielt er nicht.

Auszug aus dem DER SPIEGEL Beitrag: Der Teufel hinter der Kirchentür vom 10.12.2021 zum Fall Freisen 2006

Gesamter Artikel kostenpflichtig abrufbar unter :

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