Saarbrücker Zeitung vom 24.01.2022: Mutmaßliches Opfer aus Freisen zum Missbrauchsgutachten: „Jetzt muss der Staat handeln“

Veröffentlicht am 24. Januar 2022 um 08:00

Mutmaßliches Opfer aus Freisen zum Missbrauchsgutachten: „Jetzt muss der Staat handeln“

Das mutmaßliche Missbrauchsopfer Timo Ranzenberger fordert unabhängige Aufarbeitung der Vorwürfe gegenüber der katholischen Kirche. Bislang habe es keinen Aufklärungswillen in der katholischen Kirche gegeben. Missbrauchsfälle seien vertuscht, Täter geschützt worden. Darum muss das Verfahren endlich in unabhängige Hände, fordert das mutmaßliche Freisener Missbrauchsopfer Timo Ranzenberger.

Die Vorwürfe sind erdrückend: Obwohl Missbrauchsfälle und deren Täter in den eigenen Reihen bekannt waren, hat die katholische Kirche nicht reagiert. Sie ließ sogar rechtskräftig verurteilte Priester in Amt und Würden. Schlimmer noch: Jene, die sich an Kindern und Jugendlichen vergangen hatten, bekamen weiterhin Aufgaben in der Nachwuchsarbeit ihrer Gemeinde. Eine Aufarbeitung der Fälle – Fehlanzeige.
Zu dieser „Bilanz des Schreckens“ kommt eine Münchner Anwaltskanzlei, die ein Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising erstellte. Dort, wo Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., als Diözesanbischof wirkte und heute der damalige Trierer Bischof Reinhard Marx die Kirchenprovinz leitet. Beide werden in der Expertise schwer belastet.
Stichpunkte aus dem Münchner Missbrauchsgutachten
In die Studie der Münchner Anwaltskanzlei zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising heißt es: Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind laut der am Donnerstag vorgestellten Studie zwischen 1945 und 2019 in dem katholischen Bistum von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern der Kirche sexuell missbraucht worden. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Anwaltskanzlei – darunter 173 Priester. Dabei handle es sich sehr wahrscheinlich nur um die Spitze des Eisbergs. Es sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

Zahlreiche Fehlverhalten werden dem ehemaligen Münchner Erzbischof Josef Ratzinger (Später Papst Benedikt XVI.), dessen Nachfolger Kardinal Friedrich Welter und dem amtierenden Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx vorgeworfen. Sie sollen unter anderem beschuldigte Priester nach Bayern geholt und dort weiterbeschäftigt haben. Außerdem soll die Glaubenskongregation im Vatikan nicht darüber informiert worden sein. Die Kongregation ist eine Behörde der römisch-katholischen Kirche. Sie soll die Sittenlehrer schützen.
„Mit diesem Ergebnis habe ich gerechnet. Und jetzt muss sich etwas tun“, fordert Timo Ranzenberger. Denn er habe am eigenen Leib das Versagen der katholischen Kirche schmerzlich zu spüren bekommen – die sexualisierten Missbräuche als auch den fehlenden Willen, dies innerhalb der Institution aufzuarbeiten. Ranzenberger, selbst mutmaßliches Opfer von Übergriffen in Freisen, leide bis heute unter den Folgen.
„Wir brauchen keine Aufklärer im Ornat. Jetzt muss der Staat handeln“, verlangt der 38-Jährige, der sich durch die Studie bestätigt fühlt. Denn es habe sich gezeigt, dass die katholische Kirche nicht gewillt ist, aus eigenen Stücken die Taten aufzuklären. „Die Kirche hatte zwölf Jahre Zeit, Konsequenzen zu ziehen. Geschehen ist aber nichts“, konstatiert Ranzenberger. Dabei hätte es eine „Null-Toleranz-Politik gegenüber den betroffenen Bischöfen und Priestern“ geben müssen. „Aber daran wurde nicht gerüttelt.“ Im Gegenteil: Vielmehr seien sie fast ausnahmslos unbehelligt geblieben. Die Kirche habe die Täter statt die Opfer geschützt.
Opfer, wie er eines sei. Ranzenberger soll Ende der 90er-Jahre in Freisen mehrfach von einem Pfarrer sexuell missbraucht worden sein. Damals, gerade mal 15 Jahre alt. 2006 habe er den Schritt gewagt, den Kleriker anzuzeigen. Als die Kirche von den Ermittlungen erfuhr, habe das Trierer Bistum unter Bischof Reinhard Marx nichts unternommen. Der Pfarrer durfte bleiben. Mehr noch: Er sei unbehelligt in seiner damaligen Wirkungsstätte geblieben.
Ein früheres persönliches Schreiben an Marx, in dem der Freisener seinen Fall schilderte, sei unbeantwortet geblieben. Erst jetzt nach dem öffentlichen Druck noch vor Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens habe es eine Reaktion auf einen neuerlichen Brief gegeben, berichtet Ranzenberger. Zu einem Dialog sei es indes noch nicht gekommen. Heute lebt er weitab in Bayern. Zuletzt besuchte er nach langer Zeit an Weihnachten seine alte Heimat.
Seine traumatischen Erfahrungen und der vernichtende Anwaltsbericht bewiesen: „Die Kirche hat ihre Fürsorgepflicht vorsätzlich verletzt.“ In der Zivilgesellschäft würden solche Vergehen geahndet, wie beispielsweise bei Eltern. Aber an der Kirche gehe bislang so etwas sanktionslos vorbei.
Genau deshalb müsse der Staat nun endlich durchgreifen. „Die Aufarbeitungskommission muss in staatliche Hand.“ Damit auch die Akten dazu, die noch in kirchlicher Obhut sind. Das alles müsse beschleunigt werden. Die Aufarbeitung ziehe sich schon zu lange hin. Jetzt sollten die Täter endlich benannt werden. Zu viele Verfahren seien bereits verjährt. Der Druck müsse erhöht werden, auch über den Bundestag. Ansonsten werde es keine echte Aufarbeitung geben.
Bislang habe die Kirche gegen sich selbst ermitteln müssen. Das funktioniere nicht. So sei ein erstes Gutachten von Marx auch unter Verschluss gehalten worden. Ranzenberger: „Dieses System muss durchbrochen werden.“

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